Berlin – A Green Archipelago
Isa Melsheimer’s Take on an Urban Concept
Von Anh-Linh Ngo
Die Konjunkturphasen von Planungskonzepten verlaufen für gewöhnlich antizyklisch zur ökonomischen Entwicklung. Denn gerade in Krisenzeiten laufen Architekten und Planer zur Hochform auf. Offenbar sind sie die einzig verbliebene Spezies, die daran glaubt, dass ein Plan die Welt wenn nicht retten so doch zum Besseren wenden könne. Ein besonderes Beispiel eines solchen Rettungsplans ist das viel bewunderte und immer wieder zitierte Konzept „Berlin, das grüne (Stadt)Archipel“, das Oswald Mathias Ungers, Rem Koolhaas und andere 1977 als Ergebnis der Sommer Akademie Berlin der Cornell University, an der Ungers damals lehrte, vorlegten. Die Studie schlug ein unerhörtes Modell für die vom Kalten Krieg arg gebeutelte „Frontstadt des Westens“ vor: Um der schrumpfenden Einwohnerzahl und dem Verfall der städtischen Bausubstanz durch Leerstand und ausbleibende Investitionen zu begegnen, soll die isolierte Stadt gewissermaßen in einem Akt der Autopoiesis ihre Insellage zum Ordnungsprinzip erheben. Die durch Krieg und Teilung fragmentierte Stadt soll ihre stadträumliche Realität anerkennen und zuspitzen. Ohne falsche Sentimentalität sollen nur solche Teile erhalten werden, die intakt und klar identifizierbar sind, während der Rest rückgebaut und als Grünbereiche ausgewiesen werden. Das Hauptziel besteht darin, aus der diffusen Stadtstruktur deutlich erkennbare urbane Inseln herauszuoperieren, die aufgrund ihrer Geschichte, ihrer sozialen Struktur und ihrer räumlichen Qualität „Identitätsräume“ bilden und als Leitbild für die je besondere zukünftige Entwicklung der Einheiten geeignet scheinen. Jede Einheit bildet dabei eine „Stadt in der Stadt“, wie die Verfasser das Konzept ebenfalls nennen. Die Stadt Berlin gibt es somit nicht mehr, sie besteht vielmehr aus einer „Föderation unterschiedlich strukturierter, bewusst antithetisch gestalteter Stadteinheiten“, die lediglich durch die Matrix der Grünzonen zusammengehalten bzw. getrennt werden.
Die Faszination, die dieses radikale Konzept heute immer noch ausstrahlt, liegt in seiner besonderen Ambivalenz und Vielschichtigkeit: Es nimmt in seiner Dekonstruktion des Territoriums das Ende der Allmachtfantasien der Moderne vorweg, bietet aber dennoch eine ganzheitliche Vision an. Und es vereinigt gleich zwei starke Zeitströmungen in sich: den ökologischen und den postmodernen Gedanken, die Ende der Siebziger Jahre ihren unaufhaltsamen Aufstieg begannen. Ökologisch ist das Konzept, weil es mit allem bricht, was die moderne Stadtplanung bis dahin auszeichnete, nämlich mit dem Optimismus eines grenzenlosen Wachstums, das der einschneidende Bericht des Club of Rome erst wenige Jahre zuvor an sein Ende kommen sah. Insofern kann man es als das erste genuin „grüne“ Stadtkonzept ansehen, und das nicht etwa aufgrund seines aus heutiger Sicht suggestiven Titels, der metaphorisch die Grünzonen als das Meer evoziert, in dem die Stadtinseln wie ein Archipel schwimmen. Vielmehr weil es erstmals mit der kapitalistischen Wachstumsideologie bricht, die konstitutiv für die moderne Stadt ist. Denn im kapitalistischen Sinne stellt Stadt ein räumliches Organisationsprinzip für die arbeitsteilige Gesellschaft dar und ist somit der Logik der Mehrwertakkumulation, d.h. der Expansion ausgesetzt. Ungers geht es nicht mehr um die strahlende Stadt der Zukunft, sondern um den Umgang mit den Problemen der postindustriellen Stadt, die in Berlin gewissermaßen unter künstlichen Laborbedingungen frühzeitig zum Vorschein kamen.
Glücklicherweise argumentieren die Verfasser nicht vordergründig ökologisch, sondern zunächst rein stadtmorphologisch. Die Vielzahl historischer Bezüge und Zitate – von Karl Friedrich Schinkels Konzept einer Kulturlandschaft mit frei fluktuierenden architektonischen Katalysatoren über den Idealstadtplan von Karlsruhe bis hin zu klassischen Blockstrukturen à la Manhattan und modernen Stadtvorstellungen wie Iwan Leonidows Bandstadt für Magnitogorsk – machen „Berlin, das grüne Stadtarchipel“ zu einem postmodernen Stadtkonzept. Die gesamte Stadtplanungsgeschichte und mit ihr der immanente Architekturdiskurs werden als Resonanzraum aktiviert. Aber da die Zitate immer auch für etwas stehen, in diesem Fall für gesellschaftliche Visionen und den utopischen Überschuss, den sie in ihrer jeweiligen Zeit erzeugt haben, gewinnt der Plan eine utopisch-politische Dimension, die weit über das postmoderne Zitieren hinausweist. Man muss nicht soweit gehen und in den städtischen Einheiten ein Echo von Ungers’ historische Untersuchung der „Kommunen in der Neuen Welt“ sehen, die er gemeinsam mit seiner Frau Liselotte Ungers im selben Jahr herausbrachte, in dem, wie es der Zufall so will, der oben erwähnte Bericht des Club of Rome über „die Grenzen des Wachstums“ erschien. Es reicht, darin das Misstrauen gegenüber der einheitlichen und vereinheitlichenden Stadttheorie der Moderne zu sehen, der Ungers ein pluralistisches, in diesem Sinne wahrhaft postmodernes Stadtverständnis gegenüberstellt: als System unterschiedlicher Orte, die „miteinander eine vielfältige und komplexe städtische Umwelt bilden“.
Schließlich kann man im Archipelkonzept die Kulmination der Untersuchungen sehen, die Ungers während und nach seiner Zeit an der TU Berlin in den berühmten, von seinem Lehrstuhl herausgegebenen „Veröffentlichungen zur Architektur“ publizierte. Bereits in den Sechziger Jahren beschäftigt er sich mit Themen wie der Großform im Wohnungsbau, der Wiederentdeckung der Wiener Superblocks als soziale Einheiten oder mit dem Wohnen am Park, wo erstmals das Thema der architektonischen Landschaftsgestaltung am Beispiel der Bauten der Havellandschaft auftaucht. In all den Arbeiten zeichnet sich bereits das Interesse ab, die Stadt in ihren Einzelphänomenen zu verstehen und nach der Dekonstruktion neu zusammenzusetzen. Hierin manifestiert sich eine tiefsitzende Skepsis gegenüber der modernen Stadtplanung, die den Plan als eine politische Autorität, als Tatsache etabliert hat, die angeblich rein rationalen Kriterien befolgt. So suchte Le Corbusier in einer schwindelerregenden Volte in seinem Buch „La Ville Radieuse“ die ursprünglich an eine Herrscherperson geknüpfte Autorität auf den Plan selbst zu übertragen, damit fortan die Planumsetzung kraft einer internalisierten Macht des Faktischen erfolge. Mit diesem Trick konnte der Schöpfer des Plans nun selbst über die Autorität des Plans verfügen. Bereits die Situationisten durchschauten den Trick und machten sich daran, mit Dérive, Psychogeographie und anderen Methoden die funktionalistische Rationalität des Plans in Frage zu stellen und andere Lese- und Gebrauchsweisen der Stadt freizusetzen. Auch daran knüpft „Stadt in der Stadt“ implizit an.
Stadt als Readymade
Mit Visionen verhält es sich jedoch so, dass sie immer von der Realität überholt werden. Statt mit Schrumpfung, verfallenen Stadtteilen und fallenden Immobilienpreise haben wir es heute, 35 Jahre nach „Berlin, das grüne Stadtarchipel“ und 23 Jahre nach dem Fall der Mauer, mit einer anderen Form des Inselurbanismus zu tun. Zwar suchte Hans Stimmann, berüchtigter Berliner Senatsbaudirektor der Nachwendezeit, mit dem „Planwerk Innenstadt“ die Autorität des Plans formal wiederzubeleben, um letztlich nur zu verschleiern, dass die faktische Macht über die zeitgenössische Stadtentwicklung bereits auf andere „Autoritäten“, auf Investoren nämlich, übergegangen ist. Hinter den vereinheitlichenden Fassaden der so genannten „Berlinischen Architektur“ konnte der Ausverkauf Berlins in Ruhe vonstattengehen. Die Maskerade erwies sich dabei als äußerst nützlich für das Kapital, das sich so dem Anschein der Regelkonformität geben und im Gegenzug die besten Filetstücke der Stadt „entwickeln“ konnte. Und so geschah es, dass wir in der Sorge um ein vermeintlich im Entstehen begriffenes „Neuteutonia“ die eigentliche Gefahr, die in der neoliberalen Logik der Stadtentwicklungspolitik lag, zu spät erkannten: die pervertierte Form eines faktischen Inselurbanismus. Unter diesem Begriff lässt sich heute die Auswirkungen der Privatisierungspolitik der letzten beiden Jahrzehnte zusammenfassen, die statt Pluralität zu erzeugen, wie es das Ziel des Archipelkonzepts war, Enklaven der Exklusion und gleichzeitig eine Nivellierung der „Identitätsräume“ geschaffen hat. Statt mit Urban Villas als dem zur Konsolidierung der Inseln von Ungers und Co. bevorzugten Gebäudetyp, der in idealer Weise die Sehnsucht nach individuellem Eigenheimglück und kollektiven urbanen Lebensstil in sich vereinigte, haben wir es heute mit seinen Wiedergängern oder Bastarden zu tun, den Townhouses, Urban Villages und Gated Communities, die wie keine anderen Typologien für die fortschreitende Gentrifizierung und soziale Segregation der Stadt stehen.
Es ist daher aus stadtpolitischer Sicht erhellend genau hinzuschauen, worauf Isa Melsheimer ihre Auseinandersetzung mit dem Thema fokussiert, gerade weil die Arbeit aus einer künstlerischen, intuitiven Perspektive erfolgt. Es ist bezeichnend, dass sich unter den wenigen architektonischen Fragmenten, die sie eigens für die Ausstellung maßstäblich in Beton nachbaut, ein Modul der Häuser am Lützowplatz findet. Die von Ungers im Zuge der IBA ab 1979 errichteten Bauten waren gewissermaßen der Versuch, das Prinzip der Urban Villa auf den sozialen Wohnungsbau zu übertragen. Ungers hatte in diesem Projekt Innen- und Außenraum gleich groß und damit gleichwertig gestaltet, was Isa Melsheimer in ihrem Modell augenfällig herausarbeitet. Es ist dieses gegen alle Effizienzvorgaben arbeitende Raumkonzept, das aus heutiger Sicht überrascht und aktuell bleibt. Dass die Bauten in den letzten Jahren zum Abriss freigegeben wurden, ist daher nicht nur aus architekturhistorischer Perspektive ein Skandal. Der Abriss steht auch symptomatisch für eine verfehlte Stadtentwicklungspolitik, die sich den Gesetzen des Marktes unterwirft und durch Privatisierung städtischen Eigentums die soziale Segregation vorantreibt.
Darüber hinaus erinnern Isa Melsheimers Arbeiten auch daran, dass wir, wenn wir heute von Stadt reden, es allenthalben mit Readymades, das heißt, mit physischen wie ideologischen Restbeständen zu tun haben, die wir wieder lesen lernen müssen. So schwimmen die architektonischen Fragmente, die Isa Melsheimer für die Ausstellung bewusst oder intuitiv ausgewählt hat – Ungers IBA-Bauten am Lützowplatz, Frei Ottos Baumhäuser im Tiergarten oder James Stirlings Wissenschaftszentrum am Kulturforum –, wie Inseln im Meer der zeitgenössischen Stadt, oder, ein wenig boshafter, wie Fettaugen in der Suppe der Alternativlosigkeit, die wir uns selbst eingebrockt haben. Sie gemahnen an eine Zeit, als noch um alternative Stadt- und Wohnkonzepte gerungen wurde und die Stadtentwicklungspolitik noch alle sozialen Schichten im Blick hatte. Und, im Falle des postmodernen Baus von Stirling, an eine Zeit, in der die Wissenschaft noch autonom, frei von ökonomischem Verwertungsdruck und Drittmitteldrama dem Wissenstrieb nachgehen konnte. An die Stelle von akademischen Elfenbeintürmen sind heute Exzellenzcluster getreten, auch sie ein weiterer Bastard des Archipelprinzips.
So gesehen enthält Isa Melsheimers „Green Archipelago“ am Ende eine erstaunlich tröstliche Botschaft: Auch wenn Architektur die Welt weder retten noch zum Besseren erziehen kann, so erzeugt sie doch in den besten Fällen einen utopischen Überschuss, der noch im Zitat, im Fragment nachwirkt und uns bewusst macht, dass ein anderes Leben möglich, eine Alternative vorstellbar ist, und sei es nur als Möglichkeitsräume eines unerreichbaren Archipels.